9. Juni 1945

Immer hab ich überlegt, ob ich überhaupt noch einmal anfange, hier etwas einzuschreiben.
Soll ich's tun? Soll ich's nicht tun? Dabei wär so manches zu sagen. Rein äußerlich, daß 
seit Montag das Kaiserstraßenviertel bis zur Post und Fontanestraße geräumt werden mußte
für die Alliierte Kommission, daß auch uns 5 Personen zugewiesen wurden, die aber schon
weitergezogen sind, das bei Arado so ungefähr auch der letzte Nagel abtransportiert ist nach
Rußland, und dann, daß ich wahrscheinlich von Montag an arbeitslos sein werde.
Aber was sagt das schon alles. werden mir die vielen Gedanken später einmal in den Sinn
kommen, wenn ich das hier lese, die Gedanken, die mich jetzt so bewegen? Oder muß ich
sie aufschreiben? Muß ich es? Fast mag ich's nicht. Was wr's denn, was ich immer denken mußte?
Daß man sich wohl beugen muß, aber niemals kriechen darf. Und wie viele kriechen.
Nur der Gerhard soll kommen. Bald. Es trägt sich das alles so schwer allein, und es wär so gut,
wenn er nun endlich da wär. Mein Lümmel.

10. Juni 1945

Die Unruhe könnt mich heut rasend machen! Ich lese, ich springe auf, ich lese wieder ein paar
Worte, alles das macht mich ganz verrückt. Weinen könnt ich, heulen, schreien. Aber ich kenn
das ja. Lümmel, Lümmel, es ist zum Verrücktwerden. Innerlich wühlt's. Vielleicht ist's grad ein
Jahr, daß Du hier ankamst. Zum Sommerurlaub, weißt Du noch? Die Kirschen und die Erdbeeren
waren auch grad reif geworden und ein Sonntag war's - so wie heut. Ach Du, Du. Und dabei ist
so wenig Hoffnung, daß Du bald hier bist. Und doch hoffe ich ja immer, Tag um Tag. O Gott im
Himmel, laß ein Ende sein mit dem Warten, zu grausam ist's. Was sonst auch kommen mag,
ich will ja alles, alles ertragen, - nur nicht mehr allein sein. Schick mir den Himmel, lieber Gott,
sei doch barmherzig, schick ihn mir. So dankbar war ich für alles, so tief dankbar., doch nun ist
sie da, die Unruhe, dies Zerreißen innerlich. Hilf mir, bitte hilf!


11. Juni 1945

Nun hat Rüpels Mutti heut ihren Geburtstag. Und wie lieb sie war, wie sehr sie sich gefreut hat,
daß sie nicht vergessen wurde.  
Rüpel, und wie mag's Dir wohl gehen? Ja, was ich dann doch gehört hab: Seit Montag soll die
Verkehrssperre  an der Elbe aufgehoben sein.  Ach Lümmel, Du. Aber doch,
es wär wohl besser, Du bliebst auch jetzt noch.  Ach, wenn Du hier wärst, den Weg von dort
nach Berlin schon überstanden hättest, ich hätt keine Sorgen um Dich. Dann wär es gut.
Und ich bin so ruhig, hab so fest den Glauben, daß Du eines Tages kommst.  Ich kann Deine
Mutti nicht verstehen, in so vielem nicht. Ist überhaupt eigenartig, wie die Menschen alle
geworden sind nach diesem Krieg.  Oder bin ich so sehr anders?


13. Juni 1945

Vielleicht ist's das letzte Mal, daß ich zu Haus etwas einschreibe hier. Das letzte Mal.
Die Ufastraße wird auch geräumt für Bestzungstruppen und ich glaube nicht, daß
wir dann jemals wieder hier hereinkommen. Ganz ruhig klingt das, aber ach, der
liebe Gott weiß, was das für uns bedeutet. Es ist doch unser Haus, unser Grund
und Boden. Ach, dieses Eigentumsgefühl, dieses Wissen, daß man ein Erbe hat,
das man hochhalten und lieben muß. Aber ich will nichts weiter sagen, auch heut
nicht! Ich mag schon die ganze Zeit nicht mehr recht schreiben, kann auch gar keine
Sprache finden für meine Gedanken; drum werden's höchstens nackte tatsachen,
die hier stehen, nichts weiter.
Muß auch aufhören, es ist gleich Mitternacht vorbei und um 5 Uhr klingelt der Wecker.
Wie wird das Morgen aussehen? Manchmal möchte man am liebsten nicht aufwachen.
Herrgott! Ruhe, nur Ruhe möcht ich einmal haben. Ach, und meine kleine Mutsch tut
mir so leid. Und Vati; bis nach Glindow ist er heut gelaufen, um ein paar Kohlköpfe
und Kirschen und Erdbeeren, und so kommt er nach Haus, kreideweißc vor Anstrengung ,
hofft auf eine freudige Familie, auf ein Ausruhen am Abend - und statt dessen diese Nachricht!
Ach, es speichert sich so manches auf im Innern, das ist nicht gut.

14. Juni 1945

Dank! Wir sind noch immer in unserer Wohnung. Aber bis zum 22. müssen wir noch
auf das Schlimme gefaßt sein. Bin vollkommen k.o. Packen, Kramen, dazu die Riesenwäsche. 
Doch das Wetter war wunderbar zum Trocknen und alle Mühe war belohnt. Gott sei Dank,
die Wäsche ist sauber. Und wenn wir nun hierbleiben dürften? Ach, ich will nicht gar zu
große Hoffnung haben.
Übrigens, die Unruhe reißt nie ab. Nun kann ich mich wieder nicht auf dei Straße wagen,
weil Kriegstruppen in den Baracken drüben einquartiert sind. Für 3 Tage. Da geht's immerzu,
daß sie ankommen und man muß ständig auf der Hut sein. Aber all das ist gar nicht so wild
- wenn wir nur bleiben dürfen.


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Das sind Auszüge aus Tagebuchaufzeichnungen im ereignisreichen Jahr 1945, aufgeschrieben
von Ursula Buckow, geb.Böhme  aus Potsdam - Babelsberg (bei Berlin). Sehr Persönliches
mischt sich mit den historischen Umwälzungen, die diese Zeit des Kriegsendes charakterisieren.